Wenn die eigenen Eltern verstorben sind, wenn sie für immer weg sind, so bleiben zumeist die guten Erinnerungen an sie zurück. Und die unangenehmen, naja, Schwamm darüber, man versucht sie so gut es geht zu verdrängen, das Geschehene vielleicht in einem gnädigen Licht zu sehen. Vorbei ist vorbei und nichts Schlechtes über die Toten.
Ich bin da zwiegespalten, vermutlich weil ich so ein extremer Typ bin und keine Furcht davor habe, mich auch in schlimmen Erinnerungen zu suhlen. Es ist meine Natur.
Bevor es mich gab, gab es meine Vorgänger. Meine Vorgängerin ist meine Schwester, 3 Jahre älter als ich. Sie war die Erstgeborene. Zwischen ihr und mir jedoch gab es noch einen anderen, einen Bruder.
Im vierten Schwangerschaftsmonats aber erlitt meine Mutter eine Fehlgeburt. Die Sache muß ziemlich dramatisch gewesen sein. Ich weiß es deshalb so genau, weil die Geschichte sozusagen stets zur Familienlegende gehörte und immer wieder aufgewärmt wurde, wenn man besinnlich zusammensaß: Ach ja, so war das damals.
Meine Mutter tat dabei immer untröstlich, sie war es wohl auch. Er hätte rote Haare gehabt, erzählte sie immer wieder, und so ein hübsches Gesichtchen. Es passierte mitten in der Nacht, das ganze Bett war voller Blut, und mein Vater rannte in Panik in die Nacht hinaus und stoppte das erstbeste Auto, das ihm entgegenkam. Die Leute halfen sich damals in der Türkei unbesehen, und ab ging es ins Krankenhaus. Es war eine Rettung in letzter Minute.
Dieser (angeblich) rothaarige Bruder, der es nicht zum Bruder geschafft hatte, wurde in meiner Kindheit, aber auch später noch für mich zu einer Art “Mein Freund Harvey”, zum imaginären großen Bruder an meiner Seite, mit dem ich in meinen traurigen und verzweifelten Momenten stille Zwiesprache hielt. Oft stellte ich ihn mir auch vor, zuweilen so intensiv, daß ich ihn tatsächlich sah. Er war natürlich viel cooler als ich und viel stärker, und mit einem unergründlichen Lächeln um die Mundwinkel präsentierte er mir für jedes meiner kleinen Probleme eine Lösung. Er war schon ein toller Typ, mein verlorengegangener Bruder.
Eine bittersüße Geschichte, nicht wahr? Bloß besitzt sie einen Haken: Sie geht weiter und ist dann am Ende nur noch bitter. Ich hatte nämlich noch einen Bruder!
Dazu muß ich das wirtschaftliche Konzept unserer Familie erklären, nachdem wir nach Deutschland kamen. Es war ein denkbar einfaches Konzept: Arbeiten bis zum Umfallen, Geld sparen und damit irgendwann in der Heimat ein Haus bauen. Passend dazu waren meine Schwester und ich schon aus dem Gröbsten raus, so daß wir als Schlüsselkinder uns selbst beaufsichtigten und versorgten, während unsere Eltern sich kaputtmalochten, mein Vater als LKW-Fahrer und meine Mutter in der Dosen-Fabrik.
So einfach dieses Konzept auch war, sie hatte die Familie auf einem Schlag verroht, ihr das Liebevolle, die Seele geraubt, ja, auch ihren Sinn. Alles war jetzt untergeordnet der Imagination dieses verdammten Hauses in der Zukunft und nichts durfte den großen Plan außer Kraft setzen, nichts durfte ihm dazwischenkommen. Aus unserer einst sehr emotionalen Familie war nun eine ökonomische Einheit geworden, die sich nur in den gesetzlich vorgeschriebenen Ruhetagen die Schimäre einer Familie vorspielte, mehr schlecht als recht.
So verbrachte ich meine Tage – meine Schwester war bereits in der Pubertät und hing stets außer Haus mit ihren Freundinnen ab – zwischen Schule und den Sperrmüll-Möbeln in unserer Wohnung in einem vakuum-ähnlichen Zustand selbstmörderischer Langeweile, anfallartigem Verschlingen von Büchern und frustrierender Reizlosigkeit. Bis die Katastrophe eintrat. Allerdings in einem völlig anderen Sinne, wie mir später aufging.
Ich hörte meine Eltern zunächst sorgenvoll tuscheln. Ich weiß nicht mehr, ob meine Schwester es schon vor mir wußte, aber ich wurde erst informiert, als die Bombe schon längst geplatzt war. Dennoch sollte ich in diesem Drama eine sehr bedeutende Rolle spielen.
Meine Mutter war schwanger geworden!
Ich will nicht so tun, als hätte ich seinerzeit das gleiche moralische Gewissen wie jetzt gehabt. Natürlich betrachteten meine Schwester und ich das in der Entstehung begriffene Etwas als Konkurrenten. Wir konnten uns in unserem kurzen Leben nicht vorstellen, daß es einen anderen als uns beiden in der Gunst, auch in der finanziellen Gunst unserer Eltern geben könnte. Der Andere würde sogar noch größere Aufmerksamkeit als wir beanspruchen.
Es kam schließlich an einem Sonntag zu einem inoffiziellen Schiedsgericht am Frühstückstisch. Der “Neue” hatte natürlich keinen Verteidiger, abgesehen davon, daß das Ganze eh ein abgekartetes Spiel war. Noch ein Kind paßte einfach nicht in den oben genannten Plan. Und eins sei gesagt: Es war kein Geld-Problem, denn in den wenigen Jahren hatten sich meine Eltern ein kleines Polster angespart, so daß meine Mutter locker zwei Jahre zu Hause hätte bleiben können (damals gab es weder Kitas noch großartige Kohle für Familien, und das Kindergeld betrug gerade mal 30 DM pro Kind.) Außerdem hätten auch meine Schwester und ich sich um den Kleinen kümmern können, so eng war unser Terminplan gerade nicht. Irgendwie wäre es gegangen.
Aber nichts da! Unser neuer Freund sollte abgetrieben werden. Weil er den reibungslosen Ablauf des Gastarbeiter-Traums unserer Eltern störte und weil meine Schwester und ich ebenso dachten, wenn auch aus anderen Motiven heraus. Es war ein einstimmiger Beschluß. Seltsamerweise war die rührselige Story von meinem rothaarigen Fehlgeburt-Bruder nun auf einmal vom Tisch, man entnahm sie sozusagen still und heimlich bis auf Weiteres aus der Familienchronik und schwieg darüber.
Das Projekt gestaltete sich jedoch als sehr schwierig, denn damals war in West-Deutschland Abtreibungen verboten. Man hörte immer davon, daß Frauen in einer derartigen Lage nach Holland auswichen, aber wie man so etwas organisieren und bewerkstelligen sollte, wußten wir nicht.
Doch zum Glück gab es ja den Frauen-Buschfunk. Man steckte meiner Mutter, daß es da diese Frau gebe, die “sowas” mache, diskret und schnell, nur ein paar Straßen weiter von unserer Wohnung entfernt. Wir kannten sogar die Frau von irgendwoher, ich weiß aber nicht mehr woher.
Da meine Eltern kein Deutsch konnten, ich jedoch mit meinen 11 Jahren mittlerweile sehr gut, fiel mir die Aufgabe zu, zu ihr zu gehen und nach einem Termin zu fragen. Das Blöde war jedoch, daß die verklemmte Sexualmoral meiner Eltern es nicht erlaubten, mich in Details des Auftrags einzuweihen. Irgendwie reimte ich es mir in meinem Kopf so zusammen, daß diese Engelsmacherin in ihrem Wohnzimmer auf einen Knopf drücken würde, und der unerwünschte Gast wäre weg. Nicht allein das, ich wußte nicht einmal, wie ich der Frau dieses kriminelle Angebot unterbreiten sollte.
Also stotterte ich herum, als sie mir die Tür öffnete: Meine Mutter – ihr geht es nicht gut – Baby – Wir wollen es nicht – Wollen Sie uns helfen? Sie war eine große kastenartige Gestalt und besaß einen abgeklärten Gesichtsausdruck, der zwischen Menschenhaß und Kaputtheit schwankte. Sie meinte, meine Mutter solle morgen kommen und 200 Mark mitbringen, und knallte mir danach wortlos die Tür vor der Nase zu.
Als meine Mutter von der “Behandlung” nach Hause kam, sah sie nicht gut aus. Sie war papierweiß im Gesicht und schwankte. Sofort versschwand sie im Schlafzimmer, und blieb dann auch ein paar Tage dort. Irgendwas schien schiefgelaufen zu sein, oder diese Engelsmacherin beherrschte ihren Job eh nicht und hatte nur rumexperimentiert. In aufgeschnappten Gesprächsfetzen zwischen ihr und meinem Vater, bei denen ich mir zwischen Nicht-Hören-Wollen und der Neugier halb die Ohren zuhielt war von einem Schlauch und irgendwelchen Metallgegenständen die Rede, die zum Einsatz gekommen wären: Horror!
Es half nichts, irgendwann ging es meiner Mutter so schlecht, daß wir sie zum Arzt bringen mußten. Der kriegte sie mit Medikamenten innerhalb kürzester Zeit wieder hin, hatte aber auch eine “schlechte” Nachricht für uns. Der Fötus lebte noch! In welchem gesundheitlichen Zustand, wußte man nicht so genau.
Wieder wurde ich zu der Engelsmacherin geschickt, diesmal um die 200 Mark für ihre Pfuscharbeit zurückzuverlangen. Man kann sich ungefähr den Gemütszustand eines 11-jährigen vorstellen, der das Geld für die in die Hose gegangenen Abtreibung seiner Mutter zurückfordern will. Doch als diese komische Frau mir die Tür aufmachte, sah ich in ihrem Kastengesicht sofort, daß sie etwas Schlimmes ahnte. Schließlich gab sie mir nur 150 Mark zurück, weil sie meinte, sie hätte eigentlich alles richtig gemacht und müsse 50 Mark für ihre Auslagen einbehalten. Dabei tat sie so, als sei ich vom Abtreibungs-TÜV und könne das alles überprüfen.
Meine Mutter flog daraufhin in die Türkei, weil dort Abtreibungen legal waren. Ich weiß nicht, ob das heute noch der Fall ist. Und auch dort gab es große Probleme, weil das Embryo schon drüber war, um noch … getötet zu werden. Ja, eigentlich handelte es sich um einen kleinen Mord, und mein Vater, insbesondere aber meine Mutter waren darin verwickelt. Alles wegen dieses beschissenen Hauses, das irgendwann Wirklichkeit werden sollte. So betonhart konnten Menschen sein, denen ein Traum wichtiger war, als ihr unvorhergesehenes Fleisch und Blut.
Ob ich sie verurteile, ich, der Profiteur und Helfershelfer? Wie könnte ich? Es waren einfache Menschen, die die einmalige Chance bekommen hatten, sich aus ihrer elenden Armut freizuschaufeln, ihren Traum vom bescheidenen Wohlstand zu verwirklichen, vom Glück auch eine volle Kelle abzubekommen. Gewiß, dieses Glück war rein materieller Natur, Mörtel und Stein, und der Preis dafür unfaßbar schmerzhaft – doch der werfe den ersten Stein!
Zumindest meine Mutter hat eine mit sehr vielen Qualen behaftete Quittung dafür bekommen. Sie litt noch jahrzehntelang unter diesen Eingriffen und bekam immer wieder grausliche Unterleibschmerzen, die sie ans Bett fesselten. Ich glaube, dabei hatte man ihre Gebärmutter zerfetzt und deformiert. Sie tat mir so leid, sie tat mir so unendlich leid.
Wir vergaßen diese gruselige Familienepisode schnell, wir verdrängten sie und sprachen kein Wort mehr über sie. Stattdessen kam nach und nach wieder die Fehlgeburt-Chose mit meinem rothaarigen Bruder aufs Tapet, wenn wir kontemplativ zusammenhockten.
Einmal, ich war schon 17 oder 18, waren meine Mutter und ich allein im Wohnzimmer. Sie hatte einen Kuchen gebacken und Tee aufgebrüht. Ich genoß diese Stunden mit ihr.
Irgendwann fing sie erneut mit dem verflossenen Rothaarigen an, in der Erwartung, daß ich in ihren nostalgischen Rückblick einstimmen würde. Das machten wir immer so, es war ein eingespieltes Ritual, das uns das Herz erwärmte.
Doch diesmal ritt mich wohl der Teufel, und in ihre verklärte Erinnerung platzte ich mit der Korrektur hinein, daß es da doch noch ein anderes Kind gegeben hatte, das nicht das Licht der Welt hatte erblicken dürfen.
Sofort schossen ihr die Tränen in die Augen, und sie stand auf und eilte in die Küche. Dabei hörte ich in ihr Wimmern und Weinen hinein: “Es war ein Junge”.
Auch ich träume manchmal …
Wir alle sind auf einem Bott, keine Yacht oder so etwas, ein einfaches Boot auf dem Mittelmeer, meine Schwester, der Rotschopf, der Benjamin und ich. Die Sonne scheint aus einem stahlblauen Himmel auf uns herab, und ein warmer Sommerwind streichelt uns. Irgendwie sind wir alle alterslos, jedenfalls viel, viel jünger. Meine Schwester nimmt ein Sonnenbad weiter hinten auf dem Deck, aber wir Jungs sitzen um einen Tisch herum und trinken Wein aus feinen Gläsern. Wortlos. Der Rothaarige lächelt wieder sein unergründliches Lächeln; es ist alles gut, es ist alles schön. Und Benjamin hat einen stechenden, fiebrigen Ausdruck in seinen Augen, als habe er noch viel vor im Leben. Auch er lächelt.
Wir sind jetzt vereint, wir Geschwister, wir sind wieder komplett, und nichts, nicht einmal Gott, der Allmächtige, kann uns diesmal auseinanderreißen – unsere Familie. Und dann weine auch ich wie damals meine Mutter.