Der Wanderer kommt vom Pfad ab und steuert den Wald an. Hinter sich zieht er mit einer Hand einen arg ramponierten alten Fahrradlastenanhänger her. Darin befindet sich sein ganzes Hab und Gut in einer Plastikplane verpackt. So viel ist es nicht. Lumpen und altes Zeug, wie die Sachen, die er am Leibe trägt.
Es ist gefährlich in den Wald zu gehen, denn dort liegen viele Leichen. Einige bis zum Gerippe verwest, andere noch frisch. Und wo Leichen herumliegen, sind die Mörder auch nicht weit. Andererseits ist der Wald der einzige Schutz in der Nacht, auf den Straßen ist es noch unsicherer, wenn es dunkel wird. Nicht nur das. Er schämt sich bei dem Gedanken, aber obwohl diese Leichen bereits ausgeplündert sind, findet sich doch immer wieder in ihren Taschen, mitgeschleppten Tüten oder Koffern noch das eine oder andere, was er brauchen kann, etwas Eßbares vielleicht oder etwas zum Tauschen.
Sein Blick richtet sich kurz zum Horizont. Dieser ist ebenfalls begrenzt durch einen Wald – einen Wald voller Windräder. Sie sind allesamt defekt oder bis zu Unkenntlichkeit zerstört. Bei vielen hängt nur noch ein geknicktes Rotorblatt. Einige sind einfach in sich zusammengestürzt. Alles ist Brache, alles ist Müll.
Die Erinnerung an Elektrizität, schon gar an ihre Herstellungstechnologie, ist eh verblaßt. Die Jüngeren wissen gar nichts mehr davon.
Das Schreckliche ist, daß man das Land nicht mehr verlassen kann. Die Grenzen sind geschlossen. Aber nicht von innen her, sondern von außen. Die Nachbarländer lassen keinen mehr in ihr Territorium. Sie wollen nicht von Millionenheeren von Hungerleidern und Halbirren überrannt werden. Es wird von der Gegenseite sofort scharf geschossen, wenn man sich der Grenze nähert.
Es gibt verbotene Städte, meist Migrantenstädte. In manchen von ihnen leuchten sogar Lichter in der Nacht. Es ist für Weißgesichtige nicht ratsam diese Städte zu betreten. In ihnen herrscht ein explosives Ethniengemisch, ebenso verarmt, aber weitaus aggressiver, das von Haß auf die einstige Bevölkerungsmehrheit durchdrungen ist. Vielleicht weil sie ihnen all das eingebrockt hat. Schon beim nichtigsten Anlaß kann man dort getötet werden.
Dann gibt es die Dörfer. Sie sind verlassen, überall stehen Häuser leer, die seit Jahren vor sich hinverrotten. Die ehemaligen Bewohner sind gegangen, teils weil die Landwirtschaft, das ländliche Leben überhaupt wegen Umweltschutz- und Klimaregulierungsmaßnahmen nach und nach verboten wurden und teils, weil sich das Wohnen in eigenen vier Wänden aus denselben Gründen derart verteuerte, daß man irgendwann raus mußte, zum Wanderer wurde. Und Migranten wollen nur in größeren Städten leben.
Räuberbanden durchziehen diese Dörfer, obwohl es darin längst nichts mehr zu rauben gibt. Es kann also gefährlich werden, in einem dieser verlassenen abbruchreifen Häuser für ein paar Tage Zuflucht und Obdach zu suchen. Sobald einem in der Nacht vor Müdigkeit die Augen zufallen, wacht man vielleicht, höchstwahrscheinlich sogar am nächsten Tag nicht mehr auf.
Was den Staat betrifft, so ist die Sache sehr undurchsichtig und unberechenbar. Es gibt ihn anscheinend noch – ob sich dessen Spitzen immer noch in Berlin befinden, weiß kein Mensch -, aber nur in einer feindseligen Gestalt. An Gesetze hält sich eh niemand mehr, da ja nichts mehr existiert, was zu übertreten wäre. Außer vielleicht Mord, aber an das wahllose Morden hatte man sich schon vor zwanzig Jahren zu gewöhnen begonnen.
Doch dann, wenn es der Zufall will, tauchen ganz plötzlich die Mannschaftswagen auf, und Einsatzkräfte in schwarzer Kampfmontur und schwer bewaffnet springen heraus und zerren dich und prügeln dich in ihr Revier. Vielleicht töten sie dich auch.
Der Anlaß ist immer willkürlich. Es kann ein Lagerfeuer sein, obwohl es jeder macht, weil es ja keine andere Möglichkeit mehr gibt, sich etwas zu kochen oder in der Nacht zu wärmen. Oder man fährt noch in einem Verbrennungsmotor-Auto, obwohl dies eher einer mirakulösen Erscheinung gleicht, weil man so ein Gefährt höchstens einmal im Monat zu Gesicht bekommt. Da sitzen die ganz Hartgesottenen drin. E-Autos gibt es seit Langem nicht mehr. Praktisch ist jeder zu einem Wanderer geworden.
Hin und wieder verbreiten sich Gerüchte um bevorstehende Wahlen. Doch weder weiß man, wann sie stattfinden sollen, noch wen oder welche Partei man wählen kann – und warum. Die Hyperkommunikation noch vor zwanzig Jahren mit TV, Internet, Handys usw. ist zusammengebrochen, und außer Leuten, die sich mit sowas auskennen, kommt fast niemand mehr an Informationen ran.
Der Verdacht steht im Raum, daß es eine Regierung oder etwas Ähnliches in Wahrheit gar nicht mehr gibt. Das Land wird von einem kafkaesken und anonymen Machtklüngel mit demokratischer Fassade “regiert” und per Erbfolge weitergereicht. So oder so, man bekommt diese Leute nicht zu Gesicht. Auch ihre Namen und Photos nicht.
Daß es funktioniert, liegt nicht nur an ihren schier überfallartig auftauchenden und mit äußerster Brutalität vorgehenden Häschern, die gerade durch ihr stichprobenartiges Vorgehen eine Atmosphäre der Angst und Allgegenwärtigkeit verbreiten. Es liegt in erster Linie an der seit Dekaden antrainierten Lethargie und Duldsamkeit der Leute. Ein Novum in der Menschheitsgeschichte.
Mindestens die Hälfte von ihnen müßte inzwischen Analphabet sein. Und es herrscht überall eine Stimmung der Vergeblichkeit des eigenen Tuns, ein sinnloses Vegetieren von einem Tag zum anderen. Auch wenn man bei der Dauerwanderung gelegentlich von der Ferne propere Villen und Anwesen erblickt. Gesichert durch Elektrozäune. Man verliert leicht die Orientierung, nicht nur navigatorisch, sondern auch in der Realität.
Wie hat es dazu kommen können, fragt sich der Wanderer, als er den Wald betritt. Sicherlich war es eine Option der Staatlichkeit, die sich sukzessive zu ihrer wichtigsten, am Schluß sogar zur einzigen Staatsfunktion ausgewachsen hatte.
Der Staat bzw. die seinerzeit gewählten Regierungen hatten vielerlei Funktionen. Doch allgemein hätte man sie unter der Formel zusammenfassen können, daß die Politik egal welcher Couleur stets zum Wohle des Volkes handeln, ihm ein besseres Leben ermöglichen sollte. Daß junge Menschen eine anständige Bildung und Ausbildung erhielten, die Infrastruktur in einem guten Zustand blieb, vielleicht noch weiter ausgebaut wurde, daß ein Wettbewerb um Innovationen und Marktwirtschaftlichkeit stattfand, die innere Sicherheit gewährleistet wurde, daß jeder eine Chance bekam, sein Leben durch eigener Hände Arbeit zu meistern, daß die Schwachen aufgefangen wurden, vor allem aber, daß der Wohlstand im Volke stieg. Ansonsten sollte der Staat seine Bürger in Ruhe lassen.
Es gab aber auch jene Option des Staates, die in früheren Zeiten als nebensächlich galt und die fast jeder akzeptierte, da sie stets zur Verbesserung der Lebensqualität eingesetzt wurde: Der Staat konnte etwas verbieten. Zum Beispiel daß man zur eigenen Sicherheit, ohne sich mit einem Gurt angeschnallt zu haben, kein Auto fahren oder ein Händler keine verdorbenen Nahrungsmittel verkaufen durfte. Der Staat verbot Vieles, aber immer mit Augenmaß, wohlüberlegt und immer, wenn es nachweislich den Einwohnern nützte.
Nach und nach jedoch kümmerte sich der Staat nicht mehr um diese vordringlichsten Aufgaben, war kein Diener des Volkes mehr, sondern benutzte nur noch das Werkzeug des Verbietens. Bis zum bitteren Ende.
Die Landesverteidigung war ihm komplett egal geworden, die Energiesicherheit ebenso, die Grenzen standen für jeden offen, der eindringende Fremde brauchte sich nicht einmal auszuweisen, ein Industrieland träumte sehnlichst davon, daß die Industrie endlich verschwand, unter dem Deckmantel der Wissenschaft und der Humanität übernahmen immer mehr moderne Sekten das Land, verkappt als Parteien oder von Medien hochgejubelte NGOs, Gegenmeinungen wurden kriminalisiert und Leute, die sie äußerten, unter öffentlicher Schadenfreude und Häme kaltgestellt, ihre wirtschaftliche Existenz wurde zerstört, selbst alltägliche Dinge wie Energie- und Nahrungsmittelversorgung oder fließendes Wasser standen auf einmal unter einem moralischen Verdacht des verbotenen Tuns, kurzum, kontinuierlich rutschte man in die Epoche vor der Aufklärung zurück, in der als Wissenschaft verbrämter Geisterglaube und Massenhysterie wieder Einzug in das kollektive Denken hielten und in der das Rationale und die Idee des freien Individuums nichts mehr galten.
Dies sich zunutze machend, entstand eine neue Stände- und Feudalgesellschaft, gemästet mit Milliarden von Steuergeldern.
Das hatte zwei Gründe. Der erste Grund war darauf zurückzuführen, daß zu jener Zeit die vorrückenden jungen Generationen, die in einen Wohlstand immensen Ausmaßes geboren waren, nicht mehr wußten, wie der Wohlstand überhaupt erschaffen wurde. Sie hielten ihn für so selbstverständlich wie daß auf den Tag die Nacht folgt und auf die Nacht der Tag. Man klärte sie darüber auch nicht auf oder belog sie. Deshalb widmeten sie sich ihren Hobbys, von denen sie glaubten, diese seien das einzig Essentielle im Leben.
Damals gab es tausenderlei Hobbys, also Steckenpferde, die in der Freizeit zur Entspannung oder privaten Freude des Einzelnen neben der Arbeit gepflegt wurden. Doch das weitverbreitetste Hobby der Menschen war immer und zu jeder Zeit seine Weltanschauung und das laute Räsonieren darüber. Sogar der dümmste Mensch besaß eine Weltanschauung, von der er glaubte, sie sei die einzig wahre und richtige Sichtweise auf “alles”. Dafür konnte er sich zwar nichts kaufen, schließlich gab es ja noch das normale Leben, für das man hart ackern mußte, aber das “sich Luft machen” durch die Verbreitung seiner Weltanschauung befriedigte doch ungemein.
Die Wohlstandskinder damaliger Zeit verwechselten ihre Weltanschauungen bzw. ihren vielfältigen Glauben mit der Realität, ja, sie waren sogar der Überzeugung, daß sie für ihr Auskommen nichts anderes mehr tun brauchten, als ihre Denkweisen lauthals zu verlautbaren. Denn das bißchen Wohlstand wuchs ja auf eine magische Art und Weise wie von selbst wie das Grün im Frühling. Und so entstand bald ein inflationärer Wettbewerb um Weltanschauungen, geradeso wie im Mittelalter, als mehr als die Hälfte der kollektiven Energie der Menschen draufging, einer Gottesidee zu huldigen, deren diverse Rituale abzuarbeiten und die Priesterkaste, welche das alles akkurat überwachte, fürstlich zu versorgen – ohne daß etwas Konkretes erschaffen wurde.
Unter Druck gesetzt von den Medien, konnten sich die Politiker dieser Entwicklung im Lauf der Zeit immer weniger widersetzen, im Gegenteil, das Scheinsystem gebar zunehmend Politiker, die keine anderen Qualifikationen mitbrachten als die angesagten Weltanschauungen bzw. Ideologien.
Das Problem war nur, daß man sich mit diesem Geschwätz immer noch nichts kaufen konnte, denn das lag in der Natur des Geschwätzes.
Aber gab es da nicht diese Mehrheit, die weiterhin nach Wohlstand strebte, nach den Annehmlichkeiten des Lebens, vielleicht sogar nach ihrem Lebenstraum von einem eigenen Haus?
So kamen die Verbotsorgien des Staates ins Spiel. Man verbot den Leuten mit allerlei rhetorischen Tricks alles, was ihnen einen Mehrwert, einen Überschuß für sich selbst erzeugte, und schöpfte es für den Staat ab, so daß sie in der Endphase außer für Nahrung und Wohnen nur noch für ihn arbeiteten. Am Schluß nicht einmal das.
Aber auch die Leute, die sich bereits einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet hatten, wurden an die Kandare genommen. Man erfand für die Erhaltung ihres Besitzes und Eigentums fast monatlich neue Auflagen und horrende Steuern, so daß sie dafür entweder noch ein zweites Mal bezahlen oder das Erstandene unter Wert verkaufen mußten. Dies galt für Häuser, Autos, Wirtschaftsbetriebe, einfach für alles. Am Ende machte sich die allgemeine Erkenntnis breit, daß man am glücklichsten ist, wenn man nichts mehr besitzt. Mit Eigentum handelte man sich nur Ärger ein.
Der zweite Grund, weshalb sich die Menschen diese fatale Entwicklung mehr oder weniger ohne zu murren gefallen ließen, sich an die Verknappungen und den immer weniger werdenden Wohlstand gewöhnten und am Ende ihre Armut zwar nicht gerade feierten, aber wohl oder übel akzeptierten, war, daß man um sie herum sukzessive eine Scheinrealität aufgebaut hatte. Es glich einer Hypnose im Großversuch und in Zeitlupentempo …
Teil 2 kommt bald …