ALPHA

Mit dem ersten Schneefall hat sich die Stille über den Wald gesenkt, die absolute Stille. Und die Eiseskälte. Und das milchige Grau am Tag und die schwärzeste Finsternis in der Nacht, die nur seine schrägen, gelben Phosphoraugen zu durchdringen vermögen. Sein Fell ist gänzlich eingeschneit, und manchmal bilden sich kleine Eiszapfen an den Haarspitzen.

Mit einem Mal ist es so wie fast vor Jahrtausenden, als nur Alpha mit seinem Rudel und SIE im Wald lebten. Als Feinde. Doch nie hätte Alpha gedacht, daß ihm bei seinen langen Wanderungen durch das Dickicht einmal der Gedanke durch den Kopf schießen würde “Was ist bloß aus dir geworden – geliebter Feind?”

Es kommen jetzt schwere Tage auf Alpha zu. Der Wald hat sich verändert, ist durchlässiger geworden, so daß die anvisierte Beute die Jäger zwischen den gerade gewachsenen, voneinander weiter abstehenden Bäumen schon von der Ferne ausmachen kann. Es sind diesmal sehr viele Junge im Rudel, die die Methode der Einkreisung erst lernen müssen, vor allem aber Disziplin. Zudem verlangsamen trächtige Weibchen und einige kranke Alte das Tempo bei den langen Wanderungen. Für sie und für alle anderen ist Alpha nun verantwortlich. Er muß sie durch den Winter bringen, darf keine Fehler machen.

Manchmal aber, immer öfter sogar ist kein Wald mehr da und gar keine Beute. Im abwesenden Wald steht plötzlich nur ein riesiges Windrad wie ein abscheulicher Götze – dort wo SIE einst ihre Hütten hatten und ihre Lagerfeuer.

Alpha steckt die Schnauze ein Stück weit aus dem Wald hinaus, sieht die funkelnden Lichter der Stadt in der Ferne und denkt über alte Zeiten nach.

SIE waren noch wenige, gekleidet mit den abgezogenen Fällen von Alphas Geschlecht und denen des großen Bären. Das würde ihnen Alpha nie verzeihen! Das und ihre systematische Verfolgung ab dem 15. Jahrhundert durch SIE, bis sie fast ausgerottet waren. Der große Bär hatte als erster dran glauben müssen.

Dennoch waren sie sich damals ähnlich. Ein zäher Schlag Zweibeiner, entbehrungsreich lebend und doch im Überfluß ihres erkämpften und eroberten Raumes. Sie liebten sich, sie beschützten sich, ihre Kinder, ihre Frauen, ihre Männer, ihre Alten, sie waren ein Rudel wie Alphas Rudel. Sie nannten ihren Wald und ihr Land heilig, denn unter Schmerzen und blutig waren sie darein geboren worden und unter Schmerzen und blutig verließen sie es wieder. Die Erde, auf die dein erster Blutstropfen fällt, das ist deine Heimat, das bist du und Deinesgleichen, das ist WIR und das ist UNS! Dieses Stück Erde gehört dir und niemandem sonst anderen!

Doch dazwischen, dieser kurze Augenblick, den man Leben nennt, da waren sie quicklebendig und voll der Schönheit und Kraft, da jagten sie, versorgten sich und die Ihren mit allerlei Gutem, genossen die Freuden ihrer Lenden und ihrer Schöße, erhielten einen Vorgeschmack auf Walhalla, da lachten sie, feierten ihre Feste und erfreuten sich beim Anblick ihrer aufwachsenden Kinder.

Aber SIE hatten auch Feinde. Ja, zu dieser Zeit wußte man noch, wer ein Freund und wer ein Feind war. Alpha war ein noch beherrschbarer Feind, einer, dessen baldiges Verschwinden man schon ahnte, einer, der allmählich ins Reich der Märchen und der Träume wechselte. Der echte, um Vieles gefährlichere Feind war jedoch jener, der ihnen ihren Wald und somit ihre Seele rauben wollte.

Alpha beobachtete SIE mit seinen gelben Phosphoraugen nur aus der Entfernung und stets aus der Dunkelheit heraus, diese tapferen und ehrenvollen Waldwesen, die es seinem Rudel gleichtaten, nur auf ihrer Weise. SIE duldeten es nicht, wenn man ihnen ihre Art zu leben vermaledeite. SIE erhoben sich wie ein Mann, wenn man ihre Ahnen verhöhnte und ihre Traditionen verbot. Sie töteten die, die ihre Heimat unter den Nagel reißen wollten. Und ihre starken Götter halfen ihnen dabei, notfalls mit einem Hammer.

Dann aber kam das Kreuz und mit ihm ein anderer Gott. Dieser Gott war nicht schillernd und sinnesfroh wie ihre früheren Götter. Er war ernst und streng im Vergleich zu den alten Göttern. Dennoch gerieten diese in Vergessenheit, lösten sich in Staub und Sagen und Mythen auf, während der neue Gott in seiner Allmächtigkeit SIE antrieb, aus dem Wald hervorzukommen, ein Abbild seiner selbst aus Stein und Edelstein zu errichten und ein neues Reich außerhalb einstiger Lagerfeuer und Hütten zwischen den Bäumen aufzubauen.

So ging es jahrhunderterlang, jahrtausendelang weiter mit IHNEN, und Alpha staunte, was für wunderliche, grausame, aber auch überraschende Gestalten aus diesen einstigen Waldbewohnern im Lauf der Zeit wurden. Wie sie sich bekriegten, einander abschlachteten, millionenfach, wie sie ausschwirrten in die ganze Welt und zu den Gipfeln des Geistes, wie sie Dinge erschufen, die Mirakel gleichkamen, und wie sie irgendwann alles und jedes beherrschten – und wie sie es hinkriegten, daß es irgendwann keine Lagerfeuer mehr brauchte, um sich zu wärmen. Mehr noch, Alpha staunte schließlich darüber, daß SIE am Ende ihn und Seinesgleichen gar nicht mehr als Feinde betrachteten, sondern als Bemitleidenswerte. Schon komisch, wenn einem der Feind abhanden kommt.

Dennoch, in alldem Erkunden, Erobern und Erforschen blieb ein Teil des Waldes in ihnen zurück. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit zum Eigenen, zu den Eigenen. Sie waren immer noch ein Rudel, aber jetzt ein sehr großes. Sie kümmerten sich weiterhin umeinander wie in Zeiten des Lagerfeuers, sie liebten einander und sie wollten ihre Kinder wie Alpha seine Jungen durch die unbarmherzigen Winter bringen. Das gefiel Alpha.

Dann jedoch, Alpha hatte IHNEN nur für ein paar Winter den Rücken zugedreht, da war plötzlich alles anders. Er sah es aus der Verborgenheit des Waldes heraus, als er sich wieder zu ihnen wandte. Die ehemaligen Waldbewohner hatten sich in der Zwischenzeit nicht nur verändert, sondern waren zu völlig Anderen geworden. Sie benahmen sich wie Wahnsinnige, wie solche, denen eine monströse Schere ihre Wurzeln und Bande untereinander abgeschnitten hat. Alpha traute seinen gelben Phosphoraugen nicht.

Was als erstes auffiel, war der seltsame Umstand, daß nun jeder jeden haßte, die Weibchen die Männchen und umgekehrt, die Kleinen die Großen und umgekehrt und die Dummen die Schlauen und umgekehrt. Der Haß war nun das einzige Verbindende unter ihnen geworden, ihr Erkennungszeichen, eine Art pervertierter Stolz, der sie umso stolzer machte, je mehr sie die Ihrigen haßten.

Die Einzigen, die man nicht hassen durfte, und zwar unter Androhung schrecklicher Strafen, waren die eingedrungenen Feinde. Man hatte sogar Gesetze erlassen, um die Feinde vor Haß zu schützen, so daß derjenige, der eine haßvolle Regung gegenüber dem Feind zeigte, selbst und zum eigentlichen zum Feind erklärt wurde.

Der Feind war willkommen, mehr noch, ersehnt, erschmachtet, Erlösung bringend mehr als der eigene Gott, denn den Feind hatte man inzwischen selbst zu etwas Anbetungswürdigem gemacht. Nur durch die Anbetung des hartherzigen Feindes konnte man sich von seinem Haß lösen und sein Seelenheil in einem phantasierten Wald wiederfinden, wo jeder eines jeden Freund war. Wenn es nicht so traurig-grotesk gewesen wäre, hätten sich Alphas Lefzen zu einem Lächeln verzogen.

So hatten sich die alten Werte in ihr Gegenteil verkehrt. Wenn der Feind aus der Finsternis hervorbrach wie Alpha und sein Rudel in früheren Zeiten und eine Hölle aus Strömen von Blut, zerfetzten Leibern und Geschändeten entfachte, applaudierten die einstigen Waldwesen jetzt und verlangten im Rausch eines Totenkultes nach noch mehr. Sie sagten, das wäre ja auch in Ordnung so, schließlich hätten ihre Ahnen ja große Schuld auf sich geladen, indem sie zwischen Freund und Feind unterschieden.

Das Rudel, das Eigene sei ein Auslaufmodell, das stünde nach Lukas auch im Heiligen Buch: “Liebt eure Feinde und tut denen Gutes, die euch hassen. Bittet Gott um seinen Segen für die Menschen, die euch Böses tun, und betet für alle, die euch beleidigen. Wenn jemand dir eine Ohrfeige gibt, dann halte die andere Wange auch noch hin. Wenn dir einer den Mantel wegnimmt, dann weigere dich nicht, ihm auch noch das Hemd zu geben. Gib jedem, der dich um etwas bittet, und fordere nicht zurück, was man dir genommen hat.” Ohne daß Alpha es mitbekommen hatte, waren die Waldwesen wieder sehr gläubig geworden.

Täglich versuchten sie, das Eigene als ein Verbrechen hinzustellen und den Räuber und den Schänder als die anbetungswürdige Lichtgestalt. Auch sollte das eigene Rudel eher verarmen und verhungern, bevor der Feind vor Vollgefressenheit nicht kotzte. Sie sehnten sich nach der Apokalypse, allerdings nur für sich, für den Feind, der ihnen nicht nur längst den Wald genommen hatte, sondern auch ihre Seele, gingen sie jeden Tag werkeln und schwitzen. Und freuten sich dabei.

Die Waldwesen dehnten diese Denke auf alle Bereiche aus. Sie erklärten ihre eigenen Kinder für unnütz, ja, für schädlich, und daß Männchen und Weibchen einander begehrten für eine Erfindung. Diese ganze alte Ordnung war nun nur für den Feind reserviert, der ohne Fehl und Tadel alles wie gehabt betreiben durfte. Oberstes Ziel war zu verarmen, zu verhärmen, zu vereinsamen, sich voneinander zu entfernen, Omega zu werden und schließlich zu verschwinden.

Alpha hatte genug gesehen, und er ging wieder in den Wald zurück mit dem Gedanken, daß im Weltenlauf offenkundig jedem einmal das Fell über die Ohren gezogen wurde. Er wollte mit diesen Todessüchtigen nichts mehr zu tun haben, nicht einmal mehr als Gegenstand der Beobachtung durch seine gelben Phosphoraugen. Er verstand sie nicht, weil es daran vermutlich nichts zu verstehen gab. Alles vergeht, dachte er bei sich, und doch hinterläßt ein jedes Vergangene auch eine fundamentale Weisheit über seine vergangene Welt: Homo homini lupus.

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