SERIE

TEIL II – IN DER MASCHINE

Das neue, königslose, der Gleichheit huldigende System ging davon aus, daß jeder seines Glückes Schmied sei. Jetzt, da alle sich in Freiheit tummeln durften, konnte jeder seinen Fleiß, sein Talent, sein Kapital und seine Cleverneß in eine Karriere investieren, ohne befürchten zu müssen, daß ihm im Falle eines Erfolges irgendwelche feudalen Schmarotzer den erzielten Gewinn wieder abspenstig machten. So würde jedermann als Gleicher unter seines Gleichen einem fairen Wettbewerb nachgehen.

Die Sache enthielt nur einen Konstruktionsfehler: Nicht jedermann besaß Fleiß, Talent, Kapital oder Cleverneß. Wenn man den Mut hatte, sich der ungeschminkten Wahrheit zu stellen, verfinsterte sich das Bild sogar noch mehr. Zu allen Zeiten, bei jeder Nation und bei jeder Rasse bestand etwa ein Viertel der Bevölkerungsstruktur aus Schwachsinnigen. Man brauchte keineswegs die Wissenschaft zu bemühen, um hierfür den Beweis zu erbringen, sondern sich einfach in eine Straßenecke postieren und die Leute beobachten. Gestalten mit stupiden, halb geistesgestörten oder toten Gesichtsausdrücken kamen einem dort öfter entgegen, als man es wahrhaben wollte, Zwiesprache mit den Dämonen ihrer verlorenen Seelen haltend, entfesselte Irrenhausgebärden vollführend oder in der Masse treibholzgleich hintreibend wie willenlose Gespenster. Bemitleidenswerte Kreaturen mit mannigfaltigen Gebrechen, die es sowieso zu nichts bringen konnten, selbst wenn sie es gewollt hätten, Menschen, die nie den Absprung von der Kindheit in ein selbstverantwortliches Erwachsenendasein geschafft hatten, und Menschen, die dazu ausersehen waren, Opferlämmer für andere zu sein. Fett, krank, verwachsen, unsagbar häßlich, spleenig, dumm, irregeleitet, verrückt – Versager. Natürlich sprach der frisch Befreite ungern über diesen Bevölkerungsanteil, hätte er sich doch dann eingestehen müssen, daß es mit der Gleichheit trotz des Königmordes nicht weit her war. Allerdings begann er sich langsam den Kopf darüber zu zerbrechen, daß diese “Halbfertigen” ungeachtet ihrer Halbfertigkeit das mit dem “ein Mann, eine Wählerstimme” ebenfalls für sich beanspruchten.

Und der Rest? Da sah es schon ein wenig besser aus. Aber nur ein wenig besser! Bei dem Rest handelte es sich trotz solcher Feinabstufungen wie Unter- und Mittelschicht um die fleißige Ameise in Menschengestalt. Der sogenannte kleine Mann auf der Straße war weder der Ausschuß der Gesellschaft noch eine große Leuchte. Er zeichnete sich durch seine Bravheit, Tüchtigkeit, Ordnungsliebe, praktische Veranlagung, Leidensfähigkeit, mäßige Phantasie und seine durchwachsene Gescheitheit aus, und wußte selbst das Glück in der kleinsten Hütte zu schätzen. Er wurde geboren, griff nach den Sternen seines Kosmos’ en miniature, brachte es zum Wohlstand en miniature und legte sich abschließend mal mehr, mal weniger zufrieden in den Sarg, um in Richtung seines Minaturhimmels zu düsen, freilich mit halber Geschwindigkeit. Der kleine Mann auf der Straße war das sprichwörtliche Zahnrad in der Maschine, ohne dessen einwandfreies Funktionieren nichts lief. Doch eines war er mit absoluter Sicherheit nicht: die Maschine! Eine Ansammlung von Zahnrädern machte nämlich noch lange keine Maschine aus, sondern deren sinnvolle Anordnung. Und die hatten sich ganz andere ausgedacht.

Der kleine Mann auf der Straße konnte halt nicht, wie Bertold Brecht es gesehen hatte, für sich in Anspruch nehmen, der eigentliche Schöpfer der Pyramiden zu sein, nur weil er sie mit seiner eigenen Muskelkraft aufgebaut hatte, sondern die, die sich die Pyramiden hatten einfallen lassen. Sowohl die Ein-Viertel-Nutzlosen als auch der Bauch der Gesellschaft blieben aufgrund ihrer Disposition, bestehend aus durchschnittlicher Intelligenz, begrenztem Einfallsreichtum und fehlender Abenteuerlust, auf die Impulse der wenigen “Gleicher als Gleichen” angewiesen, leider auch darauf, von diesen ausgebeutet zu werden. Und wie sie ausgebeutet wurden!

Obwohl der Wert sich seit dem Sturz des Königs demokratisiert zu haben schien, kristallisierte sich allmählich heraus, daß die krassen Unterschiede in der Werteskala noch lange nicht aus der Welt waren. Oberflächlich betrachtet ging es sogar zu wie in Zeiten der Halbaffen, bloß daß der Oberaffe seine Rivalen nun mehr mit subtileren Mitteln in Schach hielt.

Wo aber kamen die neuen Herren der Welt her? Von dort, wo alle neuen Herren der Welt allzeit herkamen: Aus der Mitte der Gesellschaft. Zwar ging in den unteren Schichten hartnäckig das Gerücht um, daß “die da oben” alles geerbt hätten, so daß ihre Dolce vita auf plumpen Determinismus beruhe. Und tatsächlich gab es noch einige Pseudowert-Oberaffen mit gewaltigem ererbtem Grundbesitz. Doch wenn man die Biographien der neuen Herren aufmerksam studierte, insbesondere jedoch das Augenmerk auf die Tätigkeiten richtete, der sie ihrem Erfolg verdankten, kam ein ganz anderes Bild heraus. Es handelte sich bei ihnen um den winzigen, aber höchst unberechenbaren Prozentsatz einer jeder Bevölkerung, der stets ein bißchen schlauer, verschlagener, skrupelloser, geistreicher, vorausschauender, strebsamer, visionärer und kühner war als der träge Rest. Der Kapitalismus war eine gute Sache, allerdings in der Tat in einer freien, gleichen und brüderlichen Welt, leider jedoch nicht in einer, wo die Menschen so oder so waren.

Tüftler hatten inzwischen Apparaturen erdacht, mitdenen sich alles Mögliche in großer Quantität produzieren ließ. Ausgefuchste Unternehmer griffen ihre Erfindungen auf und errichteten Fabriken, was schließlich zur Industrie ausartete. Dank neuer Kommunikation- und Transporttechniken erwuchs der einstige Karavanenhandel zum Welthandel. Die Natur war zu einer schier unerschöpflich scheinenden Fundgrube geworden, und es hatte den Eindruck, daß kluge Forscher selbst Substanzen, die früher bloß als Dreck galten, in Energie, Werkstoffe oder Arzneien zu verwandeln vermochten. Die, die die Zeichen der Zeit erkannten und die Initiative ergriffen, besaßen vor den anderen automatisch einen Vorsprung.

Und was machte der kleine Mann auf der Straße, ganz zu schweigen der Minderbemittelte? Frag nicht, wäre die Antwort gewesen, wenn es sich um einen guten Freund gehandelt hätte. Mehrheitlich fristeten die Menschen jetzt ein kärgliches Dasein als Sklaven der neuen Herren. Freilich nicht als Sklaven im ursprünglichen Sinne, denn ihnen blieb freigestellt, ob sie den neuen Herren dienen wollten oder nicht. Die traurige Wahrheit war jedoch, die Entscheidung darüber hatten ihnen Hunger und Armut längst abgenommen. Sie stellten ihre Arbeitskraft für einen Spottlohn inzwischen nicht einem, sondern vielen, ja geradezu inflationär vielen Oberaffen zur Verfügung. Sie und ihre Familien waren auf Gedeih und Verderb auf die Kapitalisten angewiesen, deren objektiver Wert aber mittlerweile auch nicht mehr so ganz genau zu ermitteln war, da ihr Unternehmergeschick und Expansionsbestreben zunehmend kaum von ihrer eigentliche Wesensart abhing, sondern von dem Kapital selbst. Es gab sogar inzwischen Einrichtungen, wo sie sich einen Wert, den sie gar nicht besaßen, borgen konnten: Banken!

Trotz solch hoffnungslosen Wertewirrwarrs nahte für die verelendenden Massen aus zwei Richtungen Rettung. Zum einen gab es die Gattung Homo Normalikus gar vielköpfig auf der Welt, das heißt der kleine Mann auf der Straße war in der Überzahl. Da selbst der oberste Oberaffe nicht so viel Frauen monopolisieren konnte, wie geboren wurden, zeugte der arme Schlucker sogar noch mehr Kinder als der letztere, auch aus dem Grund, weil er die qualitative Fortpflanzungsstrategie (wenige Kinder, dafür mehr elterliche Investitionen in sie) zugunsten der quantitativen  Fortpflanzungsstrategie (viele Kinder, dafür weniger elterliche Investitionen in sie) aufgegeben hatte. Ganz abgesehen davon, daß das Treiben unter der Bettdecke das einzige Vergnügen war, das ihm in seinem vergnügungslosen kurzen Leben noch zuteil wurde. Wenn man also den Slogan “Ein Mann, eine Wählerstimme” in “Ein Mann, ein Knüppel” abwandelte, konnte über kurz oder lang keine Macht der Erde gegen solch eine Mehrheit etwas ausrichten, schon gar nicht gegen eine Mehrheit, die, den Geruch des Festbratens der Reichen in der Nase, am Hungertuch nagte.

Zum anderen war es keineswegs so, daß die Verelendenden keine Stimme besaßen. Im Gegenteil, ihre Zornesstimme drohte allmählich die Trommelfelle der Besitzenden zum Zerplatzen zu bringen. Unterdessen war nämlich ein ganz neuer Typ Oberaffe mutiert: Der Lobbyist. Dieser hatte zwar mit seiner Klientel wenig bis gar nichts gemein, und allein für sich genommen besaß er auch keinen Wert, doch vermochte er eine enorme Wertsteigerung dadurch zu erlangen, indem er die ungezählten weniger Wertseienden hinter sich versammelte und mittels eben dieser Anhäufung mit der gewaltigen Stimme eines gewaltigen Oberaffen zu sprechen vermochte. Er krönte sich zum Beschützer und Anführer der Zukurzgekommenen …

FORTSETZUNG FOLGT

 

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