Jammerschade, daß die Südkoreaner inzwischen bessere Industrieprodukte herstellen als die Deutschen. Jammerschade, daß Chefdesigner der noch verbliebenen deutschen Modefirmen inzwischen allesamt Italiener oder Engländer sind. Jammerschade, daß die Türken inzwischen bessere Filme machen als die Deutschen …
What the fuck?!
Okay, werden nun viele sagen, da gehört ja nicht viel dazu, um bessere Filme, als die Deutschen zu machen. Wer um Himmelswillen, der noch bei klarem Verstand ist, guckt sich schon freiwillig deutsche Filme an, es sei denn er ist 89, dement und wegen des Pflegekräftemangels auf dem Sofa des Seniorenstifts vor dem laufenden Fernseher einfach vergessen worden?
Mit besser meine ich aber nicht ein wenig besser, sondern um eine Zehnerpotenz besser, um nicht zu sagen at it’s best. Weiters meine ich damit auch nicht irgendwelche türkischstämmigen Filmemacher und Schauspieler, die hier wie alle deutschen Staatskünstler am Filmförderungstropf hängen und gemäß politisch korrekter Erwartungshaltung irgendeinen Scheiß von dem allseits diskriminierten, armen Migranten inszenieren müssen.
Nein, ich meine die echten Türken, also die, die in der Türkei leben und die ohne daß wir es mitkriegen oscarverdächtige, völlig politisch unkorrekte Bretter bohren. Und das unter einem Erdogan!
Davor jedoch ein paar Worte zu zwei Bescherungen, die uns typische Deutsche unterm Christbaum gelegt haben.
Ich bin der Überzeugung, daß deutsche Künstler immer nationalistischer werden. Will sagen sie pflegen ohne es selbst zu merken einen derart pervertierten Anti-Nationalismus, daß dieser wiederum in seiner Intensität und Singularität nirgendwo sonst und nur in diesem Land anzutreffen ist. Dieser Nationalismus mit umgekehrtem Düsenantrieb, der den heutigen Deutschen ausmacht, ist eine unsympathische Mischung aus überbordendem Haß auf das Eigene, ungegorener Übernahme fremder Styles und Sichtweisen und in seinem ums Verrecken Nicht-deutsch-sein-Wollen erst recht ein spießiges Deutsch-Sein, ein verlorener Charakter.
Die Netflix-Miniserie “ÜberWeihnachten” von Tobi Baumann kommt als herzerwärmend und trotz Weihnachtszwistigkeiten die Kraft des familiären Zusammenhalts preisende Dramedy (Kofferwort aus den Begriffen Drama und Comedy) daher, und ist doch nichts weiter als ein belangloser, dramaturgisch 100prozentig vorhersehbarer und mit abgestandenen Witzen längst verglühter Witze-Schreiber à la Tommy Jaud und Jan Weiler arbeitender Super-Flop. Geradezu herausragend der Hauptdarsteller Luke Mockridge, eigentlich ein Komiker, der nicht nur nicht schauspielern kann, sondern auch noch unfähig ist, einen talentlosen Schauspieler zu imitieren.
Ebenfalls auf Netflix “Wir können nicht anders” von Detlev Buck, angeblich eine Gangster-Komödie in der deutschen Provinz, in der man das Komische mit dem Elektronenmikroskop suchen muß und spätestens nach einer halben Stunde nicht mehr weiß, worum es überhaupt geht, und umswitcht. Schockierend, daß einige deutsche Drehbuchautoren und Regisseure wie aus der Zeit Gefallene Filme von Quentin Tarantino erst jetzt entdeckt und Heureka! gerufen haben, um sie sofort nachzuäffen.
Das alles ist so deutsch und gleichzeitig undeutsch, weil man Land und Leute nicht liebt, wenn man es karikieren will, es lächerlich macht, wenn man sich ihm annähern will, ständig die kritische Distanz zu ihm betont, wenn man das Typische und die aus diesem Typischen erwachsenden Probleme benennen will, auf das Exotische darin und Scheinlösungen der grün-linken Meinungshoheit ausweicht, kurzum, weil man schwer unter einer Deutsch-Neurose leidet und sich künstlerisch in seiner Haut und Heimat nicht wohlfühlt.
Wenden wir uns deshalb von diesen neurosebedingten Mindertalentierten ab und wie oben angekündigt einem Land zu, in dem die Künstler dessen Verwundungen, Verwerfungen und Verirrungen zwar klar benennen, ohne jedoch die darin lebenden Menschen abgrundtief zu verachten, sondern in ihrer Flickenteppich-haftigkeit liebevoll zu verstehen und zu erklären versuchen. Wenden wir uns nach dem ersten Netflix-Kracher “Das Damengambit” dem zweiten in diesem Jahr zu.
Der für das türkische Netflix produzierte Achtteiler “Bir Başkadır” (Etwas anderes) ist etwas ganz Besonderes und Großartiges, weil er nicht nur so gar nicht in ein aus unserer Sicht als ein zensurfetischistisch, halb religiös und irgendwie rückständig wahrgenommenes Land passen will, denn mit den Themen wie Masturbation, Homosexualität, freie Liebe, Vergewaltigung, Behinderung durch Inzucht, urbane Vereinsamung, Auswüchse der Dekadenz usw. ist hier alles dabei.
Die künstlerisch sowohl von der Optik her als auch dramaturgisch ungeheuer ambitionierte Serie (keine Sorge, sie ist ganz passabel synchronisiert) sticht auch sonst durch einige Neuerungen auf. Zum Beispiel gibt es keinen Bösewicht darin, keine Gewalt, jedenfalls keine, die der Rede wert wäre, keinen Antagonisten, keinen Feind, keine finstere Macht, gegen die die Guten ankämpfen müssen, damit der Spannungsbogen vital bleibt, und keinen Konflikt im herkömmlichen Sinne. Es gibt nicht einmal einen richtigen Hauptcharakter.
Der Filmkundige ahnt, daß Drehbuchautor und Regisseur Berkun Oya offenkundig ein Bewunderer des Mexikaners Alejandro González Iñárritu ist, der mit “Amores Perros” (2000 Mexiko), “21 Gramm” (2003 USA) und “Babel” (2006 USA/Frankreich/Mexiko) eine Blaupause für jene Art von Filmplot etabliert hat, in dem nicht stringent die Story einer einzelnen Identifikationsfigur erzählt wird, sondern die von vielen Protogonisten gleichwertig, die, obgleich sehr unterschiedlich und einander fremd, irgend etwas Verbindendes miteinander haben.
Worum geht’s? Es beginnt mit der Geschichte von Meryem, einer Teilzeitputzfrau aus einer konservativen Familie aus Anatolien, die am Stadtrand von Istanbul gestrandet ist. Obwohl sie eine einfache Person ist und ein unschuldiges Wesen besitzt, ist ihr eine phänomenale Beobachtungsgabe zu eigen, die sie Menschen und Situationen fix durschauen und hinter die Fassaden blicken läßt.
Allerdings fällt sie immer wieder in Ohnmacht und geht deshalb zur Therapie bei Peri, einer Psychiaterin, deren soziokultureller Hintergrund sich dramatisch von dem von Meryem unterscheidet: Sie entstammt einer bourgeoisen, aber etwas gefühlskalten Familie, ist gebildet, reich und laizistisch, und vertritt deshalb gegenüber religiösen Menschen negative Ansichten, so sehr, daß sie sich, wie sie einmal erzählt, bei ihren vielen Reisen rund um die Welt Peruanern näher gefühlt habe, als ihren eigenen Landsleuten. Peri selbst geht auch zu einer Therapeutin, bei der sie sich über den wachsenden Konservatismus in der türkischen Gesellschaft beschwert.
Dann sind da noch Meryems Bruder Yasin und dessen selbstmordgefährdete Frau Ruhiye. Yasin, ein Ex-Soldat und Rauswerfer in einem Club, ist ein Verzweifelter, der einerseits seine Autorität als (türkischer) Mann und Familienoberhaupt aufrechterhalten will, dem anderseits durch die psychische Labilität seiner Frau, die sich immer wieder die Pulsadern aufschlitzt, und die Sorge um seine Familie schwant, daß seine Probleme in dieser komplizierten Welt mit einfachen Macho-Sprüchen nicht zu lösen sind. Wieviel Liebe in ihm steckt und wie sehr er sich mehr als alles andere wünscht, mit seiner “beschädigten” Frau (auch im türkisch-sexuellen Sinne) und seinen Kindern nur glücklich zu werden, wird erst am Ende klar.
Die stets irgendwie weggetreten wirkende Ruhiye wiederum trägt ein Trauma in sich, dessen Verursacher sich ebenfalls am Schluß als ein Verfluchter, als eine Art gebrandmarkter Kain entpuppt, der seine Strafe nicht nur als Ausgestoßener der Gesellschaft längst erhalten hat, sondern die ihn auch physisch in ein Monster hat verwandeln lassen.
Es werden eine Vielzahl von Menschen gezeigt, darunter einen reichen, aber depressiven Zombie an Playboy, vereinsamt und des Lebens überdrüssig, und wie sich später herausstellt, über den sich sogar seine Sex-Gespielinnen hinter seinem Rücken lustig machen. Berührend auch eine bürgerliche kurdische Familie, in der es fast wie in einer deutschen zugeht, wenn Geschwister völlig andere Lebensauffassungen besitzen und sich gegenseitig bis aufs Blut bekriegen und die Eltern nicht einmal als Versöhner fungieren können, weil sie gegenüber so viel Haß und Wut einfach ohnmächtig sind.
Desweiteren eine ziemlich abgefuckte und desillusionierte Seifenopern-Schauspielerin, und ein Hodscha (Imam) und seine sehr verschlossene Tochter, die ein Doppelleben führt, führen muß, weil sie in Wahrheit heimlich eine lesbische Beziehung mit einer extrem aggressiven Kurdin unterhält, die am Ende sogar das Spiel gewinnt.
Sie alle sind auf die eine oder andere Weise durch Meryem verbunden und bilden gemeinsam die Vielfalt der türkischen Gesellschaft ab.
Doch die Story ist es nicht allein, was “Bir Başkadır” sehr sehenswert und süchtig macht. Es ist das authentisch Menschliche, die einen in seinen Sog zieht.
Alle diese Menschen sind unglücklich, um nicht zu sagen todunglücklich, gleichgültig auf welchem Stand sie sich befinden und welche Lebenseinstellungen sie auch besitzen.
Bis auf Meryem (die türkische Abwandlung von Maria), von der man nicht so genau erfährt, auf welcher Glücks- oder Unglücksstufe sie sich befindet! Sie ist eine rhetorische Figur, eine Art Projektionsfläche, auf die all diese vielen Schicksale strahlen, und durch ihre Augen gezeigt und bewertet werden. Achtung Spoiler: Am Ende kommt doch Glück, ein Happy-End auf wie es sich für einen “Familienfilm” gehört, schon gar für einen türkischen. Gut so, denn so viel Tristesse hält kein Mensch auf die Dauer aus.
In der Türkei und auch anderswo hat die Serie für Aufsehen und heftige Kontroversen gesorgt, gerade weil sie überhaupt keine anti-türkische oder polit- oder religionsideologische Agenda verfolgt, sondern eine reine emotional-menschliche. “Bir Başkadır” sagt: Wir alle, so unterschiedlich wir auch sind, so unterschiedlichen Ethnien wir auch entstammen und so unterschiedliche Probleme wir auch haben, wir sind dieses Land; laßt uns einander achten!
Klar geht es darin um Kopftuch oder nicht, um den Kampf des einzigen der Moderne zugewandten islamischen Staates Türkei zwischen Laizismus und religiöser Drangsalierung und um die Rolle der Frau, welche übrigens hier dominant in der Überzahl ist und den Ton angibt. Dennoch glaube ich nicht, daß es dem Schöpfer Berkun Oya darum geht. Seine Story zeugt eher von der urteilsfreien, ja, poetischen Betrachtung seiner Landsleute, auch der des Vergewaltigers, der als Verunstalteter, Freak und reuiger Sünder die Hölle auf Erden vor der richtigen erlebt. “Bir Başkadır” handelt von Oyas Liebe zu seinem Land.
Das wäre die Geschichte. Doch wie erweckt man so etwas zum Leben?
Durch ein grandioses Schauspielerensemble, das sich in einen wahren Rausch hineinspielt und von dem ich zumindest dreieinhalb daraus eine internationale Karriere voraussage. Allen voran Öykü Karayel (30) als Meryem, eine frühreife Meisterin ihres Fachs.
Da sie die meiste Zeit durch das Kopftuch und die schwere Kleidung in ihrer Ausdrucksweise eingeschränkt ist, spielt sie nur mit ihrem Gesicht, insbesondere mit ihren (grünen) Augen und schier tanzenden Fingern. Sie macht dabei aus der Not eine Tugend und entwickelt mit einem hintergründigen Lächeln und einem alles durchschauenden Blick einen eigenen Stil. Diese kleinen Akzente in der Mimik und eine Gestik der Rat- und Hilfslosigkeit erschaffen eine unvergeßliche Frauenfigur, vor allem eine reale. Ach ja: Hübsch ist sie auch noch!
Völlig anders geht Fatih Artman (32) als Bruder Yasin vor.
Als eine Art türkisches Pendant zu Tom Hardy beeindruckt er durch ein intensives, kraftvolles Spiel bis an die Grenze des Zusammenbruchs und bisweilen darüber hinaus. Der verunsicherte, überforderte und zutiefst unglückliche Mann aus Anatolien, den es in seiner Archaik auch in Anatolien kaum mehr gibt, aber noch in vielen Köpfen der dortigen, insbesondere aber in denen der hier in Deutschland lebenden türkischen Männer vorhanden ist, wird uns durch Artmans atemberaubendes Spiel der Verzweiflung und des Hin- und Hergerissen-Sein zwischen einer vordergründig harten Basta!-Attitüde und doch einem immer wieder ausbrechenden Flehen um des Ende des Lebensschmerzes vor Augen geführt. Wie Öykü Karayel möchte man auch ihm zurufen: Ab nach Hollywood!
Die Schmerzensfrau Ruhiye, Yasins halbverrückte Frau, wird von Funda Eryiğit (36), einer sehr erfahrenen Schauspielerin dargestellt.
Sie macht aus der Redewendung “In Schönheit sterben” und der Selbst-Isolation, in die sie sich verkrochen hat, eine Performance des Leidens auf hohem Niveau. Umso mehr kauft man es ihr ab, als sie später von ihrem verwundeten Ich selbst die Nase voll hat, ausbricht und sich eine Eigentherapie verpaßt, indem sie unerschrocken in den Abgrund und zur Quelle ihrer Verwundung hinabsteigt, um sich einer schmerzlichen Konfrontation zu stellen. Dort wird sie vom Bösen, das sich durch seine Bösartigkeit selber deformiert und vernichtet hat, schon erwartet. Keine spielt dann die Erlöste so gut wie Funda Eryiğit.
Und da wäre noch Bige Önal (30) in der Rolle der Hayrunnisa, eigentlich eine Doppelrolle, einmal der der braven Tochter des Imams und einmal der der lesbischen jungen Frau, die ihre sexuelle Orientierung entdeckt, und das alles gleichzeitig.
Sie gibt dem minimalistischen Spiel ein Gesicht und durch ihre zurückhaltende, scheue und wortkarge Art und Weise dem Menschen im Umbruch eine prägende Erscheinung. Man weiß nie, was in ihrem Kopf gerade vorgeht, und wie sie sich entscheiden wird. Und obwohl die Rolle relativ klein ist, bleibt Eryiğit haften wie ein winziges, aber bedeutendes Detail in einem Gemälde.
Doch auch an die restlichen Schauspieler sei zugerufen: Bravo und Bravissimo!
In “Bir Başkadır” wird viel geweint. Frauen weinen, Männer weinen, Arme weinen, Reiche weinen, Ungebildete weinen und Gebildete weinen, alle weinen ununterbrochen. Es scheint eine Art sakrales Ritual zu sein, um Erlösung zu erlangen. Und es tut ihnen gut, daß sie weinen.
Die Einzige, die nicht weint, ist die schlaue Meryem, die alle dramaturgischen Fäden in der Hand hält. Wie in der Anfangsszene, die ein Vorgriff auf die Geschichte ist, fällt das gute Mädchen auch in der Schlußszene in Ohnmacht. Doch diesmal vor Glück. Und das ist tatsächlich etwas anderes.
“Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul” Netflix.